Gliederung des VortragesDass es der Welt an Moral fehle, meint eigentlich ein jeder. Randalierende Jugendliche in den französischen Vorstädten, die Autos ihrer Nachbarn anzünden, amerikanische Gefängniswärter in Abu Ghraib, Manager, die mit Massenentlassungen den shareholder value ihrer Firmen steigern, bestens versorgte Politiker, die dem gemeinen Mann die Rente zusammenstreichen, akademische Doppelverdiener, die keine Kinder machen und die Kinder von nebenan, die nicht grüßen – lauter Dokumente des umfassenden Mangels an Gemeinsinn, Pflichtgefühl, Menschlichkeit. In diesem Versagen fast aller Mitmenschen vor den Maßstäben des Guten haben die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft die fertige, stets abrufbare und auf alles anwendbare Erklärung für die sozialen und zwischenmenschlichen Ekelhaftigkeiten, die sie erleben müssen. Wären nur alle so tugendhaft und verantwortlich, wie sie sollten, wäre die Welt in Ordnung, und jeder bekäme, was ihm zusteht.
Dass es ihm selbst an Moral fehlt, meint eigentlich kaum jemand. Man hält sich ja an die Gesetze, zahlt Steuern, tut in Beruf und Familie seine Pflicht, übt Rücksicht auf andere, engagiert sich manchmal sogar für die Umwelt und spendet für die Armen. Eigen- und Fremdeinschätzung weichen da ziemlich voneinander ab. Ein jeder sieht sich von Egoisten, Abzockern, Lumpen umgeben und kennt vor allem einen Rechtschaffenen: sich. Das ist nur eine der selbstgerechten Dummheiten des moralischen Bewusstseins, von dem die Rede sein wird. Mit diesem Bewusstsein verstehen sich die Menschen als - wertvolle - Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft und sehen sich zum Wächter über das korrekte Betragen ihrer Mitmenschen berufen. Das selbst bringt jede Menge Feindseligkeit unter die Leute.
Unsere These: Die Welt krankt keineswegs an zu wenig Moral; eher schon an zu viel. Das moralische Denken ist das größte Hindernis für eine objektive Beurteilung der Gesellschaft, der es entspringt, und der eigenen und fremden Interessen, die sie erzwingt. Der Vortrag zielt darauf, den Zusammenhang von Recht, Gerechtigkeit, Moral, Gewissen und Heuchelei zu erläutern.
Teil 1: Versubjektivierung des Rechts I: Freie Unterordnung
Teil 2: Versubjektivierung des Rechts II: Das Gewissen - Die Freiheit des moralischen Individuums
Teil 3: Der Inhalt des Sollens und sein Ziel: Selbstbeschränkung der Interessen, damit sie zusammen bestehen können
Teil 4: Die Praxis der moralischen Gleichung von Anstand und Erfolg - Rechtfertigung der Interessen und Heuchelei
Teil 5: Enttäuschung: Die Erfahrung, dass das Gute, was man im Kopf hat, nicht in der Welt ist - Ja zur Ordnung im Konjunktiv - "Der Mensch ist schlecht" - Der Ruf nach dem wirklichen Staat, damit er die ideale Ordnung endlich durchsetzt
Teil 6: Diskussion - Braucht Kritik die Vernunft als Maßstab?
Teil 7: Nachträge: Die Korruption des moralischen Denkens - Barmherzigkeit: Bedarf nach Inszenierung der Gemeinschaftlichkeit neben der Konkurrenz - Kritik der Moral ist kein Aufruf zur Antimoral