Nichts könnte unzeitgemäßer sein, als heutzutage vom Proletariat zu reden. So etwas mag es früher einmal gegeben haben – im Manchester-Kapitalismus, im Kaiserreich, vielleicht noch vor Hitler; aber das ist Ewigkeiten her. Inzwischen kann die Sozialwissenschaft keine Arbeiterklasse mehr entdecken - schon wegen der vielfältigen Lebenslagen, in die es die „abhängig Beschäftigten“ verschlägt. Sie vor allem, die mit dem Fremdwort einmal gemeint waren, weisen den „Proletarier“ als eine Beleidigung zurück, die sich ehrbare Steuerzahler und Arbeitsplatzbesitzer nicht bieten lassen müssen. Sogar als Schimpfwort für sozial minderwertige und rohe Zeitgenossen, die nicht in die gute Gesellschaft passen, ist der „Prolet“ weitgehend ausgestorben.
Tatsächlich hat die bürgerliche Gesellschaft ihr Problem mit dem einst außerhalb stehenden, rechtlosen und rebellischen Arbeiterstand offenbar gelöst. Vor der „starken Hand des Arbeiters“, die alle Räder stillstehen lässt, wenn sie nur will, fürchtet sich kein Kanzler und kein Mittelständler mehr. Arbeiterparteien, die den Umsturz von Staat und Wirtschaft betreiben, und Gewerkschaften, die zugunsten des Lebensunterhalts ihrer Mitglieder die Interessen der Wirtschaft missachten, sind verschwunden. Die Gesellschaft kann zufrieden sein.
Aber hat sie auch die Probleme gelöst, die dieser Stand mit ihr hat, - oder hat sie nur dessen Widerstandswillen aufgelöst? Jedenfalls sind Armut, Verwahrlosung, Not und Lebenskampf unter den „Sozial Schwachen“ nicht zusammen mit dem Proletariat ausgestorben. Die demokratischen Medien, die nichts verschweigen, berichten von freien Arbeitnehmern, die flexibel zwischen Tag-, Nacht- und Schichtarbeit, Überstunden und Unterbeschäftigung wechseln; von „working poor“ in einem „Niedriglohnsektor“, dessen Entgelt seinen Mann nicht ernährt. Sie wissen aber auch von normal verdienenden Familienvätern, die gleich in die Armut abstürzen, wenn sie sich unvorsichtigerweise ein paar Kinder leisten; andere hängen dauerhaft in der Schuldnerberatung, weil sie sich sonst etwas geleistet haben. Man kennt die „abhängig Beschäftigten“ allesamt als Kassenpatienten, für die im Krankheitsfall die schlechtere Abteilung einer „Zwei-Klassen-Medizin“ zuständig ist; und im Alter werden sie Sozialrentner, die dem Gemeinwesen unerträglich zur Last fallen. Wenn alles gut geht! Es gibt nämlich auch noch die unbeschäftigten Teile der modernen Arbeitnehmerschaft, die Arbeits- und Obdachlosen, Sozialhilfeempfänger und Penner. Der menschliche Schrott der Leistungsgesellschaft gilt endlich auch den Maßstäben des Sozialamts als echt arm.
Was also hat sich geändert seit den Tagen, in denen es ein rechtloses, nicht gesellschafts- und nicht überlebensfähiges Proletariat gegeben hat? Vor allem eines: Der „Vierte Stand“ steht nicht mehr außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft und kämpft nicht mehr gegen sie um sein Überleben. Die Arbeiterklasse hat sich integriert – und das voll und ganz auf eigene Kosten. Sie hat das Bewusstsein aufgegeben, dass die zahllosen unglücklichen Einzelschicksale aus ihren Reihen einen gemeinsamen Grund haben, und dass die vielfältigen Lebenslagen, in denen sich Lohnabhängige finden, auf eine gemeinsame Klassenlage und einen gemeinsamen Gegensatz zu den Eigentümern der Produktionsmittel zurückgehen. Für diesen Fortschritt war vieles nötig, von dem das Buch handelt. Vor allem hat der Staat sich und seinen Aufgabenkatalog ändern müssen, damit sich die Rechnungsweise des Kapitals und sein freier Gebrauch der Arbeit nicht ändern musste. Die Staatsmacht, die das Eigentum garantiert, hat gelernt, auch die Lohnarbeit als ehrbares Geschäft anzuer kennen, und sich der Regelung dieses Tauschgeschäfts ebenso gewidmet, wie der besonderen Sorte von Eigentümern, die nur sich selbst, d.h. ihren eigenen Körper besitzen. Inzwischen werden die proletarischen Lebensumstände umfassend staatlich verwaltet. An der ökonomischen Rolle, die der Lohnarbeiter spielt und an den Folgen, die seine Rolle für ihn hat, haben die sozialen Jahrhundert-Reformen nichts geändert. Was als das Ende des Proletariats gefeiert wird, ist die Vollendung seiner Funktionalität für Staat und Kapital. Arbeiter und Unternehmer, Sozialwissenschaftler und Politiker erkennen das Proletariat nicht mehr wieder, weil es fertig hergerichtet ist. Die Karriere eines Jahrhunderts ist zu Ende – und alle Gründe für die soziale Revolution bestehen fort.
Das Proletariat
Politisch emanzipiert - Sozial diszipliniert - Global ausgenutzt - Nationalistisch verdorben - Die große Karriere der lohnarbeitenden Klasse kommt an ihr gerechtes Ende