Wenn Staaten ihren Kredit verlieren …
• … sieht das so aus, dass ganz Europa täglich neu darum bangt, dass Ungarn, Rumänien, Spanien, Italien und viele andere auf internationalen Kapitalmärkten Käufer für neue Staatsschuldpapiere finden – und ob ihnen das zu bezahlbaren Zinsen gelingt. Denn wenn Staaten ihre Schulden nicht mehr vermarkten können, sind sie pleite und das Geld, das sie schöpfen, mit dem ihre Gesellschaften wirtschaften und das ihre Bürger besitzen, ist entwertet. Das droht heute nicht exotischen Dritt-Welt-Geldern, sondern etablierten Weltwährungen wie dem Euro, dem britischen Pfund; und ob der US-Dollar und der japanische Yen besser dastehen, ist auch noch die Frage. Auf einmal wird deutlich, dass der Kredit, den die Staaten als Schuldner bei internationalen Kapitalanlegern genießen, tatsächlich der Reichtum dieser Nationen ist und dass ihr Geld nur so viel wert ist, wie ihre Schulden.
• … dann ist etwas Grundsätzliches kaputt: eine der Säulen nämlich, auf denen der Kapitalismus seit dem 2. Weltkrieg gegründet war: die innige Gemeinschaft der großen westlichen Staaten mit dem Finanzkapital. Das gegenseitige Stützen und Bestätigen des privaten und des staatlichen Kredits schlägt um in gegenseitige Schädigung, wenn die Internationale der Geldkapitalisten im Interesse der Rettung der eigenen Vermögen den großen, bisher kapitalkräftigen Staaten Kredit verweigert und ihr Kapital aus deren Währungen abzieht. Der Anker des ganzen Geld- und Kreditsystems, und zugleich die größte Verrücktheit der gesamten Wirtschaftsordnung, sitzt nicht mehr felsenfest: Dass nämlich Schulden, wenn Staaten sie machen, Geld, und zwar sich vermehrendes Geld, Kapital, sind.
• … dann haben wir alle über unsere Verhältnisse gelebt. Es ist beeindruckend, wie direkt die Regierung von ihrem Problem zur Diagnose und zur Therapie findet. Ihr Problem ist, dass die Schulden der Euro-Staaten von den Gläubigern plötzlich nicht mehr als bombensichere Kapitalanlagen, sondern als zweifelhafte Schulden angesehen werden. Dass sie nun schlechte Schulden haben, erklären sich die EU-Regierungen damit, dass sie zu viele Schulden gemacht, also dem Staatshaushalt zu viele Ausgaben zugemutet haben. Und wenn sie ihren Haushalt nach nötigen und verzichtbaren Ausgaben sortieren, dann finden sie ganz schnell heraus, welche ihrer Ausgaben eigentlich „zu viel“ sind und wer von „uns“ so richtig über seine Verhältnisse gelebt hat: Es sind diejenigen am unteren Ende der sozialen Hierarchie, die schon immer unter den durchschnittlichen Verhältnissen haben leben müssen: Arbeitslose, Rentner und arme Familien.
Genau genommen stimmt an dieser Wirkungskette gar nichts. Aber darauf kommt es nicht an. Aufs Ganze gesehen enthält sie nämlich eine interessante Auskunft über die „Verhältnisse“, über die wir gelebt haben: Schlecht sollen die europäischen Staatsschulden sein, weil sie zu viele sind, zu viel für das Wachstum des Kapitals in Euro-Land und die daraus entstehenden Staatseinkünfte aus Steuern. Die reichen nicht aus, um den Gläubigern das nötige Vertrauen in die unerschütterliche Finanzkraft ihrer Schuldner einzuflößen; Vertrauen, das nötig wäre, damit sie ihnen das immer neue Schuldenmachen erlauben, an dem sie bestens verdienen. Das Wachstum des Kapitals, die Bereicherung der Klasse der Kapitaleigner, ist zu klein für die finanziellen Aktivitäten des Staates. Oder andersherum: Der Staat – mit seinen Ausgaben und dem Leben des Volkes, das daran hängt – ist zu teuer für die Geschäftswelt. Das Kapital definiert die „Verhältnisse“, an die „wir“ uns zu halten haben. Jetzt soll eine wachsende Armut der „Sozial Schwachen“ den Haushalt des Staates in Ordnung bringen und aus seinen schlechten Schulden wieder gute machen.
Teil 1: Vorbemerkung
Teil 2: Die Natur der Krisenlage
Teil 3+4: Wie die Staaten sie zur Kenntnis nehmen und wie sie dagegen ankämpfen - Konkurrenz
Teil 5: Diskussion
Teil 6: Nachtrag: Was die Armut der Armen als Mittel der Krisenbewältigung taugt und was nicht; warum sie trotzdem „alternativlos“ ist
Siehe die Artikel der letzten Nummern des GegenStandpunkt zum Thema Finanzkrise