Von wegen "soziales Problem" - über Notwendigkeit und Nutzen von Armut in der Marktwirtschaft

Datum
Ort
München
Themenbereich
Arbeit, Kapital und Sozialstaat
Veranstalter
AK Gegenargumente
Dozent
Gastreferenten der Zeitschrift GegenStandpunkt

Armut gehört für jedermann offensichtlich zum festen Inventar unserer schönen deutschen Marktwirtschaft. Die brummt derweil und legt seit der Krise von neulich eine jährliche Steigerung der Exportüberschüsse, der Staatseinnahmen und des DAX nach der anderen hin.
Man könnte angesichts dessen das Offensichtliche zur Kenntnis nehmen: Der Reichtum der Nation verträgt sich wunderbar mit massenhafter Armut unter ihren Einwohnern. Und jeder weiß ja auch, dass der nationale Reichtum nicht als große Liste nützlicher Güter bilanziert wird, mit denen die materiellen Bedürfnisse der Leute zu befriedigen wären, sondern als Geldsumme: als Summe der Gewinne, die kapitalistische Unternehmen erwirtschaften, die ausschließlich ihnen gehören und für die sie eine einzige Verwendung wissen – den Einsatz für die Erwirtschaftung noch größerer Gewinne. Dass das am besten dann funktioniert, wenn die Arbeitskräfte, derer sie sich dafür bedienen, möglichst wenig Lohn bekommen – auch das gehört zum Allgemeinwissen: Jeden Tag verkünden Politik und Wirtschaft, dass der konkurrenzlos effektive Niedriglohnsektor samt aller begleitenden Regelungen eines der entscheidenden Erfolgsgeheimnisse des deutschen Wirtschaftserfolges darstellt. Man könnte von daher zu dem Schluss kommen, dass die Armut derer, die den Reichtum der Gesellschaft produzieren, notwendige Folge wie nützliches Mittel für diesen Reichtum ist. Und man könnte der Frage nachgehen, warum und wie die Arbeit den Reichtum derjenigen mehrt, die arbeiten lassen, aber denen, die auf Arbeit und Einkommen angewiesen sind, weder ein ordentliches Auskommen noch überhaupt die Gelegenheit, sich eines zu verdienen, sichert… Wie gesagt: So könnte man dem offensichtlichen Sachverhalt auf den Grund gehen. Muss man aber nicht. Man kann nämlich auch
– Armut als schweres Schicksal bedauern und daran erinnern, dass sich hinter den ‚anonymen Zahlen konkrete Menschen verbergen‘. Mit dieser Verschiebung von Armut auf die individuelle Betroffenheit der Armen und die Beteuerung, dass das niemand wollen kann, hat man deren ‚Schicksal‘ schon einmal grundsätzlich von dem System der Marktwirtschaft abgetrennt, in dem Armut entsteht und sich endlos reproduziert.
– darüber herumrechten, welche Formen von materieller Beschränktheit und Opferung von Lebenszeit für den Kampf um die immer prekäre Existenzsicherung überhaupt das Etikett ‚Armut‘ und damit das allgemeine Mitleid verdienen. Auf diese Weise gelangt man garantiert zu einer Definition von Armut, die sie aufs Komma genau als Abweichung von einem rechnerischen Durchschnitt beschreibt. 
– diese Millionen ausnahmsweisen Armutsfälle als Fälle eines eingetretenen individuellen Armutsrisikos problematisieren und die These aufstellen, dass Umstände wie Kinder, Ausbildungsnachteile, Krankheit, Jugend, Alter, … dieses Risiko erhöhen. Auf die Weise hat man ohne großes Aufheben die marktwirtschaftliche Verrücktheit einfach so durchgewunken, dass mitten in einer hochgradig arbeitsteiligen und auf immer neuem technologischen Niveau produzierenden Gesellschaft ausgerechnet das materielle Leben und Auskommen das Abfallprodukt eines privaten Kampfes auf sich allein gestellter Individuen ist. 
– schließlich vom Staat „Beschäftigungspolitik“ fordern. Auf die Weise hat man dann endgültig Lohnarbeit in das Gegenteil von Armut verwandelt. Peinlich ist das nicht nur deswegen, weil zugegebenermaßen Armut in der Marktwirtschaft die Lage oder das Risiko just derjenigen ist, die auf Lohnarbeit angewiesen sind. Sondern obendrein erfährt man doch auch, dass der Staat dem Begehr nach möglichst vielen Arbeitsplätzen am effektivsten dadurch Rechnung trägt, dass er gesetzliche Bedingungen des „Arbeitgebens“ schafft, die allesamt eine Stoßrichtung haben: Sie zielen darauf, das Verhältnis von Lohn und Leistung für die kapitalistischen Unternehmen zu optimieren, also für die Arbeitenden möglichst ununterscheidbar von den Sorten von Armut zu machen, gegen die Beschäftigung das Allheilmittel sein soll. 

Veranstalter: AK Gegenargumente

Weitere Publikationen zum Thema von argudiss oder von anderen:

"Der neueste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung: Armut in Deutschland – nachgezählt, problematisiert und für gut befunden" in GegenStandpunkt 1-13

Das Buch „Beschäftigung“ – „Globalisierung“ – „Standort“ Anmerkungen zum kapitalistischen Verhältnis zwischen Arbeit und Reichtum

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