Wählen ist verkehrt! Das Wahlkreuz – ein Blankoscheck für die Macht

Datum
Ort
Nürnberg
Themenbereich
Rechtsstaat und Demokratie

Am 22. September ist es wieder so weit. Dann dürfen die Bürger an die Urnen gehen und dort frei, gleich und geheim ihre Stimme abgeben. An dieser periodischen Veranstaltung soll sich entscheiden, ob ein Volk in Freiheit oder Knechtschaft lebt. Viel mehr als an seinen materiellen Verhältnissen soll es an seinem Wahlrecht hängen, ob es einem Volk „gut" oder „schlecht" geht ... Das Loblied auf das hohe demokratische Gut und seine Bedeutung für die Freiheit des Bürgers steht allerdings in auffälligem Kontrast zu der Geringschätzung, die die Wahl von den wahlberechtigten Bürgern selber erfährt. Sie scheinen nicht gerade gebieterisch danach zu verlangen, endlich wieder einmal ihre Rolle als „Souverän" spielen zu dürfen. Umfragen ergeben, dass die Mehrheit der Wähler es gut einfach weiter mit Merkel und Schäuble aushalten würden, auch wenn sie mit der herrschenden Politik, der Bedienung ihrer Interessen und dem Zustand des Gemeinwesens wenig zufrieden sind. Aufgeklärte Wähler beklagen die Langweiligkeit des Wahlkampfs. Und die meisten tun sich zugegebenermaßen schwer, irgendwelche bedeutenden Differenzen zwischen den Parteien und ihren Kandidaten auszumachen. In ihrer Mehrzahl betrachten sie die freie Wahl überhaupt als einen Schwindel, den sie längst durchschaut haben: Dass „die da oben doch machen, was sie wollen", weiß noch jeder mündige Bürger herzusagen. Dabei taugt diese abwinkerische Haltung gegenüber den Machern der Politik, die immerhin über die Lebensumstände im Land bestimmen, offenbar gleichermaßen dazu, der einen oder der anderen Mannschaft dann doch „seine Stimme" zu geben, oder auch einfach nicht zur Wahl zu gehen: „Regiert wird man ja sowieso!" Wähler bilden sich offensichtlich erst gar nicht ein, mit ihrer Stimmabgabe ernstlich Einfluss auf die Politik nehmen und für mehr Berücksichtigung ihrer Interessen sorgen zu können. Wozu also der ganze Aufwand, wenn der „Volkssouverän", der Wähler, gar nicht davon ausgeht und sich dafür begeistern kann, dass er mit seiner Stimme irgendetwas Entscheidendes für sich bewirkt? Für die Veranstalter der Wahl ist das jedenfalls kein Grund, die ganze Veranstaltung zu lassen. Die hohen Repräsentanten der Politik sind da schon anspruchsvoller. Bundespräsident Gauck und Bundestagsvizepräsident Thierse machen sich z.B. öffentlich Sorgen um die wachsende „Indifferenz" und den „Verdruss" der Wähler. Von den Gründen der Unzufriedenheit wollen sie allerdings nichts wissen, und davon, dass sich Politik denen zu widmen und sie abzustellen hätte, ist schon gleich nicht die Rede. Gauck und Thierse stellen vielmehr klar, dass es für sie -- Unzufriedenheit hin oder her -- einfach keinen Grund geben darf, nicht wählen zu gehen. Im Gegenteil: Der Bundespräsident rät seinen Bürgern: „Wer nicht weiß, wer der Beste ist, wählt eben einfach das weniger Schlechte". Mit dem ewigen Kalauer vom „kleineren Übel" bekennt er sich zwar dazu, dass die Politiker und Parteien, die die Wähler ins Amt heben, beim Bürger wenig Zufriedenheit stiften. Aber dass die Regierenden „über die Köpfe" ihrer Wähler hinweg und durchaus gegen deren Interessen und Erwartungen regieren, soll gar nichts ausmachen und keinesfalls vom Wählen abhalten. Das Volk soll gefälligst seine Stimme abgeben, wenn seine Politiker ihm schon mal zur Entscheidung vorlegen, von wem es die nächsten Jahre regiert wird. Nach der Wahl kann es dann ja wieder meckern -- um beim nächsten Mal wieder 'die da oben' zu wählen ... So funktioniert „lebendige" Demokratie, für die Bürger -- und für die Politiker, die frei über all die Lebensbedingungen entscheiden, mit denen das Volk zurechtkommen muss!

Der Vortrag bei der Sozialistischen Gruppe ist hier.

Veranstalter: Sozialistische Gruppe

Literaturhinweise

Peter Decker (Hrsg.)
Demokratie
Die perfekte Form bürgerlicher Herrschaft

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