„Ohne Wachstum keine Investitionen, ohne Wachstum keine Arbeitsplätze, ohne Wachstum keine Gelder für die Bildung, ohne Wachstum keine Hilfe für die Schwachen. Und umgekehrt: Mit Wachstum Investitionen, Arbeitsplätze, Gelder für die Bildung, Hilfe für die Schwachen und am wichtigsten Vertrauen bei den Menschen.“
So hat es Bundeskanzlerin Merkel angesichts der Krise vor ein paar Jahren auf den Punkt gebracht: Das Wachstum der Wirtschaft ist der oberste Imperativ demokratischer Politik, weil ohne Wachstum nichts gehe, mit Wachstum aber viel von dem möglich sei, was sich jede und jeder Einzelne und wir uns alle zusammen an Gutem und Schönem vorstellen sollen. Das gilt so grundsätzlich, so unumstößlich und als so urvernünftig, dass die Kanzlerin eine Begründung für diesen Zusammenhang gar nicht für nötig erachtet. Und schon gleich nicht eine Auskunft darüber, was da eigentlich wachsen muss, damit Politik und Wirtschaft die Werke tun können, die sie als gute anpreist.
Selbstverständlich ist das nicht. Denn merkwürdig ist es schon, dass es einer permanenten Vergrößerung des Geldreichtums der Gesellschaft bedürfen soll, um alle möglichen materiellen Interessen überhaupt auf auch nur gleichbleibendem Niveau zu bedienen. Wenn dann noch die Frage gewälzt wird, ob „das Wachstum endlich bei den Menschen angekommen“ sei, dann bekennen sich alle an dieser Erörterung Beteiligten ja auch dazu, dass es mit diesem lebensdienlichen und Vertrauen stiftenden Zweck des Wachstums nicht weit her ist. Offen besprechen sie die Bedürfnisse der Leute als das bloße Abfallprodukt eines Wirtschaftswachstums, das seinen Zweck und seinen Inhalt in etwas anderem hat als in einem möglichst guten Leben für möglichst viele Menschen. Das Wachstum ist nicht für die da, denen da Leistungen des Wachstums versprochen werden – sie sind von dem Wachstum abhängig, das sich für die Wirtschaft und den Staat in wachsendem Geldvermögen bilanziert. Worauf sich die Kanzlerin also beruft, das ist der Vorrang des nationalen Reichtums, den die Politik kommandiert und von dem der Staat alle Lebensverhältnisse abhängig gemacht hat.
Das ist zwar unschön genug, aber leider noch nicht einmal die ganze unschöne Wahrheit über das Verhältnis von Wirtschaftswachstum und Wohlfahrt der 'Menschen'. Denn alle wissen ja auch: Wenn die zuständigen Politiker ihrem Volk mit dem Postulat 'Wachstum' als Bedingung der Machbarkeit des Wünschbaren kommen, dann werben sie für die wachstumsdienlichen Konsequenzen, die sie mit ihrer Politik praktisch ins Auge fassen. Und die passen endgültig nicht mehr zur Vorstellung, Wachstum sei Bedingung und Mittel für allseitiges Wohlergehen. Wenn sich die Verantwortlichen praktisch daran machen, mit ihrer Politik „das Wachstum zu fördern“ dann betrachten und behandeln sie nämlich die postulierten schönen Effekte des Wachstums als ebenso viele Schranken und Hindernisse dafür: Löhne und Gehälter, also die „Teilhabe der Menschen“ am wirtschaftlichen Lauf der Dinge, dürfen auf keinen Fall zu hoch werden; andernfalls wird ihnen die Fähigkeit zugeschrieben „das Wachstum abzuwürgen“ oder auch „Investoren abzuschrecken“. Auch soziale Leistungen, Umwelt- und Arbeitsschutzregelungen usw. usf. fallen ganz schnell dem Verdacht anheim, das Wachstum zu beschädigen. Und um wen es dabei geht, wessen materielle Interessen da auf dem Spiel stehen, ist auch klar: „Die Wirtschaft“, das sind die Unternehmer, denen man als den notorischen „In vestoren“, „Arbeitgebern“, „Mittelständlern“ auf keinen Fall mit zuviel Kosten das Geschäft verderben darf. Es ist nämlich ihr Wachstum, von dem in unserer Gesellschaft alles abhängig gemacht ist, ihr Wachstum, für das sie sich des Materialismus der Massen als Arbeitskräfte und zahlende Kunden ebenso bedienen, wie sie ganz selbstverständlich die Nützlichkeit jeder politischen Maßnahme für ihr Wachstum einklagen.
Auch das geht wie selbstverständlich durch: ‚Das Wachstum‘, auf dessen harte Sachnotwendigkeiten die arbeitende Menschheit im Lande immer wieder neu eingestimmt und verpflichtet wird, ist kein Gemeinschaftswerk der dafür Zuständigen. Da wird nicht gemeinschaftlich Nützliches und Notwendiges geschaffen; die 'Wirtschaft', die 'wachsen' muss, das sind die um ihren wachsenden Geldreichtum gegeneinander konkurrierenden Unternehmen. Denen liegt jeder Gedanke, jede Rücksicht auf so etwas wie Volkswohl und Mehrung der gesellschaftlich verfügbaren Mittel fern, sie nehmen umgekehrt die ganze Gesellschaft in Beschlag dafür, dass ihre Geldrechnungen aufgehen. Und auch das ist nicht unbekannt: Mit ihrer Konkurrenz um ihr jeweiliges Geschäftswachstum produzieren sie regelmäßig Wachstumskrisen, in denen von allem auf einmal zuviel da ist, zuviel für ihre Geschäftsansprüche – zuviel Arbeitsplätze, die sich für die Anwender der Arbeitskräfte nicht lohnen, zuviel Güter, die sich nicht verkaufen lassen, zuviel Produktionsanlagen, die sich nicht rentieren. Das alles ist dann nichts wert, wird brachgelegt, weil nicht ‚wachstumstauglich‘. Dann machen sich Unternehmen erst recht an den zu hohen Kosten des Arbeitsvolks als ‚Wachstumshindernis‘ zu schaffen.
Und finden Unterstützung bei der Politik. Denn bei der und nur bei der gibt es den Standpunkt ‚des Wachstums‘: Der Staat bilanziert die Resultate der Unternehmerkonkurrenz um ihr Gewinnwachstum als seinen nationalen Reichtum, von dem er lebt. Als Manövriermasse für deren und damit sein Geldwachstum organisiert und kommandiert er sein Volk. – damit ‚das Wachstum‘ zustande kommt, ohne dass ja nichts geht... s.o.
Es gäbe also genug Fragen: Worin besteht eigentlich die ökonomische Substanz des ‚Wirtschaftswachstums‘? Wie kommt es überhaupt zustande und warum fallen seine Resultate regelmäßig so einseitig aus? Wie kommt es, das eine Ökonomie, die sich dem ‚Wirtschaftswachstum‘ verschreibt, regelmäßig dessen Einbruch und Zusammenbruch produziert, und dann tatsächlich alle Lebensverhältnisse in Frage stehen? Was ist das für ein Wachstum, das als allgemeinen Zweck überhaupt keiner der wirtschaftenden Akteure verfolgt? Und warum und wie macht sich der Staat mit seiner Gewalt zu dessen Anwalt? Vielleicht produziert ja das Wachstum all die Notlagen und die als ungerecht beklagten Verteilung, als deren Abhilfe die Kanzlerin das Wachstum anpreist...
Die paar Kritiker marktwirtschaftlichen Wachstums, die es gibt, halten sich mit solchen Fragen und den Ungereimtheiten marktwirtschaftlicher Wachstumsapologetik nicht weiter auf. Die negativen Wirkungen für die Betroffenen, Umwelt usw. verbuchen sie als Folge einer falschen Einstellung zu Möglichkeiten und Grenzen ‚des Wachstums‘. Sie nehmen die ideologischen Versprechen der Politik hinsichtlich der Segnungen des Wachstums wie den eigentlichen Gehalt und Zweck des Wachstums und seiner politischen Förderung, vermissen deswegen bei deren Einsatz für nationales Kapitalwachstum die ‚gesellschaftliche Verantwortung‘ und machen sich für ein Wachstum ohne all die negativen Wirkungen, ein ‚nachhaltiges‘, ‚begrenztes‘, ‚qualitatives‘ …, stark. Und sie nehmen die Unterordnung aller Lebensverhältnisse unter die ‚Sachnotwendigkeiten‘ ‚kapitalistischer Geldvermehrung wie ein verfehlte, alle Gesellschaftsmitglieder, Kapitalisten, Arbeiter, Konsumenten, eben ‚die Menschen‘ einigende falsche, auf 'immer mehr' gerichtete Stellung zu Bedürfnissen und deren Befriedigung und denken sich von daher Korrekturen ausgerechnet an den abhängigen Interessen und deren gesellschaftlicher Regelung aus. Die einschlägigen ‚Modelle‘ laufen regelmäßig auf auf Änderung der hierzulande angeblich herrschenden ‚Einstellung‘: des ‚Konsumismus‘ heraus, verlangen ‚Umdenken‘ im allgemeinen und v e r a n t w o r t u n g s v o l l e B e s c h r ä n k u n g i m besonderen... Womit Wachstumskritik also vor allem eines ist: eine neue Variante von Antikritik am Kapitalismus und seinen widrigen bis zerstörerischen Konsequenzen für die Grundlagen, Bedingungen und Mittel des Lebens der Leute.
Veranstalter: Arbeitskreis Gegenargumente