Der Ruf der deutschen Wirtschaftselite ist schlecht wie nie. Nicht nur an Stammtischen wird über die Raffkes in den Führungsetagen geschimpft, die ihr Geld schon gar nicht mehr zählen können und dennoch nicht genug kriegen. Auch die Presse, allen voran BILD, und die große Politik stoßen in dieses Horn: SPD-Chef Beck prangert die "neuen Asozialen" an – und meint einmal nicht Hartz-IV-Empfänger, die in Saus und Braus leben, sondern Vorstandschefs und Multimillionäre: Wieder einmal sei in Deutschland die Elite dabei, "unser System zu zerstören". Die Kanzlerin warnt gar, dass "uns der Laden noch um die Ohren fliegen wird", wenn es mit Verantwortungslosigkeit und Unmoral bei den Spitzen der Gesellschaft so weitergehe. Die politische Führung, sonst schnell dabei, Unzufriedenheit in den unteren Rängen der Gesellschaft als übertriebenes Anspruchsdenken, als unzeitgemäße Besitzstandswahrung oder Realitätsverweigerung abzukanzeln, gibt dieser Unzufriedenheit voll recht. Anspruchsdenken, das sich im Ruf nach sozialer Gerechtigkeit und nach der Strenge des Gesetzes auch für die Reichen äußert, ist offenbar nicht übertrieben. Es ist das gute Recht des Volkes und verdient Unterstützung durch die Obrigkeit.
In Zeiten, in denen mitten im Wirtschaftsaufschwung die normalen Einkommen sinken und das Land über Mindest- und Hungerlöhne debattiert, sollen sich die Lohnabhängigen ruhig den Kopf darüber zerbrechen, ob das 400-fache des Durchschnittslohns, das mancher Manager kassiert, exakt seiner Leistung entspricht oder ob nicht eher das 200-fache angemessen wäre. Leute, die bei AEG, Nokia, Siemens, Telekom überflüssig und ins Elend der Sozialhilfe oder in eine ärmliche Frühverrentung entlassen werden, sollen sich ruhig darüber aufregen, dass "unfähige Chefs", die "Arbeitsplätze vernichten", mit einem millionenschweren "goldenen Handschlag" verabschiedet werden, den sie nicht verdienen. Und alle, denen die kürzliche Mehrwertsteuererhöhung die Haushaltskasse belastet, dürfen sich um den Staatssäckel sorgen, dem die Reichsten der Reichen, die es nicht nötig hätten, ihren Steuerbeitrag vorenthalten. Der brave Steuerzahler, der sein Opfer bringt und jeden Cent zweimal umdreht, ehe er ihn ausgibt, darf sich von den Extratouren der Reichen verhöhnt vorkommen. Das muss er sich nicht bieten lassen. Das nicht.
Politiker wissen diesen gerechten Volkszorn zu schätzen und sie heizen ihn berechnend an. Wenn die armen Massen ihre Geldnot und Existenzunsicherheit in die kritische Prüfung überführen, ob Gerechtigkeit herrscht, ob sie also auch bekommen, was ihnen nach den Maßstäben des Gemeinwesens zusteht; bzw. ob den Reichen wirklich zusteht, was sie bekommen, dann liegen sie richtig: Die neidvolle Frage nach der Berechtigung der extremen Einkommensunterschiede ist nämlich das Gegenteil einer Befassung mit den Gründen des eigenen Mangels. Mit der Anklage, dass die soziale Gerechtigkeit mit Füßen getreten werde, dass die Abzocker triumphieren und der Ehrliche der Dumme sei, ruft das Volk nach guter Herrschaft und ordentlicher Amtsführung. Und dazu lassen sich Politiker immer gerne rufen.
Den Ruf lassen sich die Figuren an der Macht nicht streitig machen – schon gleich nicht von Konkurrenten der Linkspartei oder der NPD, die das Recht des Volkes auf Gerechtigkeit noch viel ernster zu nehmen versprechen. Dafür beschädigen Merkel, Beck und andere auch zeitweilig den guten Ruf der Elite, auf die Deutschland natürlich weiterhin setzt.
Der Vortrag wird den hohen Wert "Gerechtigkeit" erläutern und die nationale Sehnsucht danach.
Teil 1: Vorbemerkung
Teil 2: Der 'Fall Nokia'
Teil 3: 'Managergehälter'
Teil 4: 'Zumwinkels Steuerhinterziehung'
Teil 5: Die Forderung nach Gerechtigkeit
Teil 6: Diskussion
Veranstalter: Sozialistische Gruppe
Weitere Publikationen zum Thema von argudiss oder von anderen:
GegenStandpunkt 1-08: Mindestlohn vs. Managergehälter
Eine vorweihnachtliche nationale Besinnung über soziale Gerechtigkeit
GegenStandpunkt 1-08: Massenentlassung bei Nokia
Nokia schließt die Handy-Fabrik in Bochum und entlässt Tausende
Eine patriotische Heul-Orgie besiegelt die Abwicklung