Lampedusa und anderswo - Andauerndes Massensterben an Europas Grenzen: Das Grenzregime im grenzenlosen Kapitalismus

Datum
Ort
Bremen
Themenbereich
Staatenkonkurrenz und Imperialismus
Veranstalter
Argudiss
Dozent
Gastreferenten der Zeitschrift GegenStandpunkt

1.

Anfang Oktober kentert vor Lampedusa ein hoffnungslos überladenes Schiff voller Afrikaner. Die Bilanz sind ca. 300 Tote. Die allgemeine Aufregung ist groß. Eine „humanitäre Katastrophe“ wird konstatiert. Das ist heftig: Also erst wenn das alltägliche Ertrinken, Verhungern und Verdursten von „Flüchtlingen“ im Mittelmeer das seit Jahren gewohnte Maß übersteigt, ist eine politische Trauergemeinde hochrangiger Politiker zur Stelle - dann aber auch sofort. Die breitet ihr „Entsetzen“ vor den bereit stehenden Reportern aus und versichert, alles zu tun, was in ihrer Macht stehe, damit so eine „Tragödie“ nicht mehr passieren kann: „Das Mittelmeer darf kein Massengrab werden!“ heißt der mit viel humanem Impetus vorgebrachte Aufruf. Und genau so meinen sie es auch: Es muss doch möglich sein, dass der Ausbau ihres Kontinents zu einer „Trutzburg“ gegen "Flüchtlingsströme" ohne diese ständigen Leichenberge an Europas Grenzen voran geht! Das ist ihre Sorge und entsprechend sieht es aus, wenn Politiker den Schutz von Flüchtlingen zu ihrer humanitären Sache machen. Allein über besseren Schutz der boatpeople vor den tödlichen Konsequenzen ihrer eingerichteten Grenzschutzmaßnahmen beraten sie. Der Schutz dieser armseligen Kreaturen vor jenen Umständen, die sie zur Flucht gezwungen haben, ist die Sache der EU-Politiker nicht. Wie auch? Sie gehören ja zu den Urhebern jener "Lage", der sich Millionen Afrikaner durch Flucht zu entziehen versuchen.

2.

Ihrem Interesse an einer Zurichtung der Welt als Quelle von Kapitalreichtum ist es nämlich zu verdanken, dass inzwischen bis ins entlegenste Dorf in Afrika die heimischen Lebensverhältnisse durch Geldwirtschaft beherrscht werden. Für jedes Lebensmittel und jedes armselige Produktionsmittel muss gezahlt werden - auch wenn es dort an jeder regelmäßigen Verdienstgelegenheit fehlt. Noch die letzten erbärmlichen Einkommensquellen der Einheimischen werden z.B. durch europäische Fischfangflotten vor Afrikas Küsten oder durch Billigexporte von Hühnerabfall ruiniert. Ganze Völkerschaften gehören dann, immer gemessen am Bedarf des globalisierten Kapitalismus an Arbeitskräften zur überschüssigen Weltbevölkerung, mit der kein Geld und kein Staat zu machen ist. Kriege und andere "Katastrophen", an denen die "modernen Industriestaaten" ebenfalls und nicht nur mit Lieferung von Waffen aus ihren Rüstungsschmieden beteiligt sind, komplettieren das Szenario von Verwüstung, Elend und Unterdrückung. 

3.

Diesen verheerenden Verhältnissen kann eine große Zahl der betroffenen Menschen erst gar nicht entkommen. Sie vegetieren vor Ort, nicht imstande, die Strapazen einer Flucht auszuhalten; wenn sie denn überhaupt wüssten, wohin sie fliehen sollten. Andere machen sich auf in angrenzende Länder, dürfen sich dort dauerhaft in Lagern einrichten, betreut von westlichen Hilfsorganisationen, die mit Zelten, Decken und jenem Milchpulver, zu dem hiesige Milchüberschüsse verarbeitet werden, demonstrieren, dass "wir" die "Ärmsten der Armen" nicht im Stich lassen. Und dann gibt es noch die vergleichsweise geringe Anzahl der so genannten Flüchtlinge. Das sind die Menschen, die irgendwie das Geld für jene geschäftstüchtigen Banden aufbringen, Schlepper und Schleuser genannt, deren Geschäft auf der Überlebensnot der Flüchtlinge basiert. In zwangsläufig überfüllten Booten unternehmen diese Flüchtlinge dann den Versuch, möglichst lebendig das europäische Festland zu erreichen. Allein diese Menschen stellen die "Flüchtlingsströme" dar, von denen sich Europa bedroht sieht. Damit steht die Welt gänzlich auf dem Kopf: Da wird ein ganzer Kontinent rücksichtslos für westliche Interessen zugerichtet und dann leidet Europa an einem gerade dadurch losgetretenen "Flüchtlingsproblem". Nicht sie, die Flüchtlinge haben also ein existenzielles Problem, wenn sie nirgends eine Bleibe finden - sie selbst sind das Problem. Europa definiert sich als Opfer einer Lawine seiner eigenen Armutskreaturen, die auf die Grenzen zurollt.

4.

Klar ist damit: Diese Menschenspezies hat keinen Zutritt und darf ihn nicht erhalten. Jedenfalls keinen, über den nicht die Staaten wirksame Kontrolle und Entscheidungshoheit haben. Und genau dieser Beschluss zur Grenzziehung gegenüber Menschen, die hier als Treibgut der „Globalisierung“ anlanden, ist die politische Grundprämisse aller „Flüchtlingspolitik“: Diese Elendsgestalten haben keinerlei Rechtsanspruch auf Aufnahme in einem europäischen Land da mögen sie noch so sehr kurz vor dem Verhungern oder Verdursten stehen. Einen irgendwie gearteten Anspruch auf Hilfe sieht das Flüchtlingsrecht nicht vor. Dass die Flüchtlinge etwas brauchen, nämlich etwas zum Überleben, taugt nicht als Richtschnur staatlichen Handelns. Dessen Gehalt ist ebenso einfach wie brutal: Als erstes werden die Grenzen dicht gemacht; Europa will sich die Flüchtlinge wirksam vom Hals schaffen und halten. Zweitens ist mit der Neufassung der Asylgesetze geregelt, wie man die widerrechtlich Eingedrungenen schnell und rechtlich einwandfrei wieder los wird. Und drittens wird schon mal darauf geschaut, ob sich unter den Eindringlingen Menschen befinden, mit denen sich in den Zentren des europäischen Kapitalismus als Tagelöhner in der Ernte oder beim Bau etwas anfangen lässt. Im Unterschied zu auswärtigen IT-Fachkräften, die deutsches Wachstum beflügeln sollen oder syrischen Bürgerkriegsflüchtlingen, die als lebende Kronzeugen der „Unmenschlichkeit des Assad-Regimes“ von Nutzen sind, ist bei den „Armutsflüchtlingen“ aber erst einmal keine Brauchbarkeit in Sicht. Ohnehin sind die meisten von ihnen von vornherein als "Wirtschaftsflüchtlinge" deklariert, für die es nicht nur keine Verwendung gibt, die vielmehr - Frechheit! - "unsere Sozialsysteme unterwandern". Damit ist die zur europäischen Staatsräson gewordene Sortierung rechtlich exakt hergestellt.

5.

An den Grenzfestungen wird - dies ist für die EU-Politik die einzig logische Konsequenz aus Lampedusa - generalstabsmäßig weiter gearbeitet. Die Frontex-Schiffe bekommen neue Order: Sie sollen möglichst keines der Flüchtlingsschiffe vor Europas Küsten auftauchen lassen, sie abdrängen, ihre Rückfahrt begleiten, dabei auch - das ist die humanitäre Seite ihrer Mission - schon mal Flüchtlinge retten und sie dann irgendwo in Afrika an Land abladen. Ausgreifend werden nordafrikanische Staaten dafür eingespannt: Sie sollen den Schleppern das Handwerk legen, damit Europa der Anblick der boatpeople erspart bleibt; sie sollen Schwarz-afrikaner auf ihrem Weg nach Europa internieren und zurückschicken. Am besten ist es, wenn schon die Heimatstaaten dafür sorgen, dass niemand die Flucht aus seinen elendigen Lebensverhältnissen in Richtung Europa antritt. Das kommt dann wohltönend als „Bekämpfung der Fluchtursachen“ daher. Wenn erst gar kein Flüchtling eine europäische Dienststelle erreicht, um seinen Asylantrag zu stellen, dann werden zudem auch keine Leichen an europäischen Stränden angeschwemmt und dann ist die humane Flüchtlingspolitik am Ziel.

6.

Die Flüchtlinge, die durchkommen, sind: Illegale. Das ist ebenfalls kein Merkmal, das sie irgendwie an sich haben. Es ist vielmehr der Rechtsstatus, der ihnen zugeordnet wird, und in dem alle „Einzelschicksale“ aufgehen: Für wen Europas Regierungen das „Trennende“ ihrer Grenzen nehmen oder aufrecht erhalten, das ist - längst bevor noch so ein armes Wesen sich auf den Weg nach Europa macht - in dem umfangreichen Rechtswerk kodifiziert, mit dem sie die weltweite „Migration“ sortieren. Es mag makaber sein, wenn den Überlebenden von Lampedusa mit ihrer „Rettung“ in Italien gleich die Strafanzeige wegen illegalen Grenzübertritts angekündigt wird – 

zeigt aber das unerbittliche Rechtsprinzip, auf das sich alle „Flüchtlingspolitik“ stützt. An dem ändert sich nichts, wenn andere europäische Staaten mit dem Status der Illegalität das Recht verbinden, einen Asylantrag zu stellen, der dann - ebenfalls nach gültigen Rechtsvorschriften und in ca. 98% aller Fälle abgelehnt werden kann. So wird dann der rechtsgültige Status des unrechtmäßigen Aufenthalts durch Abschiebung beendet.

7.

Dagegen regt sich Protest. Menschen, die dieses Elend aufregt, machen in Großdemonstrationen die Bevölkerung auf die Lage der Flüchtlinge und auf ihre Kritik an der Flüchtlingspolitik der EU aufmerksam. Sie organisieren Hilfen für Flüchtlinge, die es bis hierher geschafft haben, und versuchen sich an ihrem Schutz vor dem Zugriff der Staatsmacht, die sie am liebsten gleich wieder in jene "sicheren Drittstaaten" abschieben möchte, über die sie nach Europa gelangt sind. Das ist verständlich. Weniger verständlich ist es, wenn sie ihre Kritik in der Forderung nach einem "Bleiberecht" für die hier Gestrandeten zusammenfassen. Der Sache nach ist das nichts als eine Einmischung in jene Flüchtlingspolitik, die die Protestierer zugleich als "menschenverachtendes" Staatshandeln kritisieren und vor der sie mit Menschenketten die Lampedusa-Flüchtlinge beschützen. Das kann doch wohl nicht angehen, dass sie den Rechtsstaat, der die "Duldung" von Flüchtlingen als die "vorübergehende Aussetzung der Abschiebung" definiert, zu einer gemeinsamen Verantwortung aufrufen. Auch darüber wurde diskutiert.

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