Die Unternehmer stürzen mit Verweis auf ihre Krisenlage alle gewohnten Arbeitsverhältnisse um, kürzen auf breiter Front die Löhne und verlangen mehr Leistung, stellen massenhaft Leute aus und keine neuen ein – das gebietet ihr Geschäft und das erlaubt ihre ökonomische Macht: Sie sind es schließlich, die mit ihren Geldmitteln und -rechnungen darüber kommandieren, wie gearbeitet wird und was der arbeitende Mensch davon hat.
Die regierenden Politiker sparen mit Verweis auf ihre Haushaltslage an staatlichen Aufwendungen – zu Lasten ihres jeweiligen Volks: Staatsbedienstete werden entlassen oder deren Einkommen radikal gekürzt, die unternehmerischen Angriffe auf den Lohn durch rechtliche Regelungen und Erlaubnis neuer prekären Arbeitsverhältnisse und Niedriglöhne, durch die Senkung von staatlich verordneten Lohn'nebenkosten' und durch den Ab- und Umbau staatlich geregelter Sozialleistungen ergänzt und verallgemeinert.
Die Regierenden hierzulande rühmen sich und ihre Vorgänger dafür, das Deutschland da mit gutem Beispiel vorangegangen und mit seiner Agenda 2010 rechtzeitig das an passenden sozialstaatlichen Korrekturen vorgenommen und an Billiglohnverhältnisse eingerichtet hat, was andere europäische Staaten jetzt nachholen müssen und nach deutschem Geschmack immer noch viel zu halbherzig angehen. Das muss sein, damit Europas Wirtschaften wieder gesunden, so die Auskunft und auch schon das ganze Argument: Anderes verträgt die Wirtschaft nicht, anderes kann und will die Politik deshalb auch nicht herbeiregieren. Eine rücksichtslose Auskunft über die Sachnotwendigkeiten der herrschenden Wirtschaftsweise und ihre staatliche Betreuung.
Die Betroffenen wären gut beraten, der Sache auf den Grund zu gehen. Die öffentlich vorgetragenen Einwände und Proteste zielen allerdings in eine andere Richtung: Sie beklagen die „wachsende Schere zwischen arm und reich“, statt nach der Eigenart und dem Gegensatz der Einkommensquellen zu fragen, die die einen und immer mehr auf den unteren Etagen der Einkommenshierarchie festnagelt und immer mehr nach 'unten' befördert, also kein irgendwie erträgliches oder auch nur gesichertes Ein- und Auskommen garantiert: Da ist dann nicht mehr so sehr die materielle Lage der Massen der Skandal, sondern die Differenz zwischen deren verfügbarem Geld und dem der oberen Zehntausend; und nicht einmal diese Differenz für sich, sondern dass „sich die Schere immer weiter öffnet“, also deren – in den Augen der Beschwerdeführer zu großes – Anwachsen. Aber was heißt schon: 'öffnet sich'! Wird die Verarmung bei denen, die auf Arbeit angewiesen sind, und der wachsende Reichtum, der sich auf der anderen Seite sammelt, nicht irgendwie produziert! Schaffen nicht 'die Reichen' die zum raren Gut gewordenen Arbeitsplätze, lassen arbeiten und organisieren Beschäftigung so und nur so, dass sich ihr Reichtum mehrt, aber nicht die Lebensmittel derer, die sie beschäftigen!
Da wird beklagt, dass „das Gerechtigkeitsempfinden“ leidet, am Ende der „Zusammenhalt der Gesellschaft“ und die „Demokratie“. Leidet das arbeitende und massenhaft arbeitslose Volk mit seinen wachsenden Existenzsorgen vornehmlich an verletzten moralischen Empfindungen? Wenn allenthalben die Beschäftigten und Nichtbeschäftigten ihre wachsende Not in einen moralischen Verstoß und politische Versäumnisse übersetzen, geht das in Ordnung? Hat die Herrschaft, die ihnen die sozialstaatliche Verwaltung aufnötigt und aufkündigt die demokratische Zustimmung eigentlich verdient, um die sich gesorgt wird? Offensichtlich buchstabiert sich Gerechtigkeit bei Lohn und Leistung, Beschäftigung und Arbeitslosigkeit, sozialstaatlichen Regelungen und ihrer radikalen Beschneidung doch ganz anders als nach Vorstellungen einer gerechteren Verteilung, die dem kleinen Mann das seine, - was eigentlich? einen halbwegs sicheren Arbeitsplatz und ein bescheidenes Auskommen! - und den anderen das ihre, - was eigentlich? eine maßvolle Bereicherung und die Pflicht, ihren Reichtum auch ordentlich zu investieren! - zukommen zu lassen.
Und überhaupt: Soll man sich der öffentlichen Sichtweise anschließen, dass das junge und alte Prekariat, Niedriglohn- und Hartz IV-Empfänger, die Rentner, die demnächst massenhaft unter das offizielle Armutsniveau fallen, die Mittelschichtler mit ihrem sozialer Abstieg, also all die, die Probleme mit ihrer Existenzsicherung haben, lauter Probleme für Gemeinwesen und Staat schaffen. Für einen Staat, dessen Regierungen mit ihrer Förderung von Niedriglohnbeschäftigung und mit ihren radikalen Einschnitten bei der wachsenden Klientel der Sozialkassen die Armutskarrieren gerade systematisch organisieren und zementieren, weil das die Unternehmen und die staatlich organisierten Sozialkassen brauchen. Die Unternehmen darf die Betreuung der Sozialfälle, die bei ihren Rechnungen mit lohnender Arbeit offenkundig laufend anfallen, nicht belasten, und der Staat kann sie sich nicht leisten, je mehr sie werden: So geht offenkundig sozialstaatliche Gerechtigkeit!
Die Protestanten sehen das umgekehrt. „Umfairteilung“ heißt die Parole. Das richtet sich nicht auf den Lohn und gegen die Adresse, die mit 'Beschäftigung' ihr Geschäft macht, sondern an die Adresse des Staats. Dem nehmen die öffentlichen Anklagen einerseits seine Geldnöte ab: Ohne dass der Staat Reichtum in die Hände bekommt, geht nichts. Dem geben sie andererseits aber zu bedenken, dass es den Reichtum ja wohl gäbe, er müsste ihn sich nur holen, bei den Reichen, um es dann in alle möglichen guten Werke zu investieren: in Bildung, Soziales, Arbeitsplätze... Da wird dem Staat mit seinem hoheitlichen Steuerzugriff und der Freiheit, die er sich bei seiner Finanzierung nimmt, viel Gutes zugetraut – wenn die Politik bloß wollte. Damit handeln sich die radikalen Bittsteller prompt den Hinweis ein, dass die Politik ihre unabweisbaren Gründe hat, die großen Vermögen zu schonen – das sind schließlich die einzigen, die investieren können und sollen, und ohne das geht nichts an Beschäftigung. Darum, dass Lohnabhängige, deren Einsatz sich nicht lohnt, eine Beschäftigung und Existenzgrundlage kriegen, wird es dann beim Investieren und dessen staatlichen Förderung und bei Steuer und Haushaltspolitik überhaupt wohl auch nicht gehen.
Ausgerechnet danach, nach 'Beschäftigung' und mehr Bemühungen des Staats darum verlangen die Protestler: nach Erhaltung und Förderung der Brauchbarkeit der Bevölkerung – für einen Arbeitsplatz, an dem gar nicht die erlernte Fähigkeit, sondern die unternehmerischen Geldrechnungen darüber entscheiden, welche Qualifikation gefragt, ob und wie der arbeitsfähige Mensch gebraucht wird und was er dafür verdient...
Die Politiker erklären eins ums andere Mal die 'Alternativlosigkeit' ihrer materiellen Eingriff in und Angriffe auf die Lebensbedingungen ihrer arbeitenden und arbeitslosen Bevölkerung. Die Wirtschaft und mit ihr die Nation muss wieder auf die Beine kommen, sonst geht nichts – dafür sind sie verantwortlich! Statt mit Berufung auf selbstverschuldete Finanznöte des Staats der Politik bessere Alternativen anzutragen und abzufordern, sollte man deren Auskünfte, dass ein nationales Wirtschaftswachstum, von dem der Staat lebt und mit dem die nationalen Politiker leben können, und ein erträgliches Auskommen des Arbeitsvolks nicht zusammengehen, so ernst nehmen, wie die es meinen und praktizieren!
Teil 1: Vorbemerkung
Teil 2: Die Proteste gegen die Krise und ihre Kritik (siehe auch die Zitate) Gegenaufklärung: Klarstellungen zur Krisenpolitik - Auskünfte über die Normalität von Staat und Kapital
Teil 3: Staat und Staatsverschuldung - Vorgriff auf kreditbefeuertes Wachstum - Staatschuldenkrise
Teil 4: Krise und staatliche Krisenbewältigung
Teil 5: Der Protest: Ruf nach Beschäftigung - Die Empörung demokratischer Bürger
Teil 6: Diskussion
Veranstalter: AK Gegenargumente
Weitere Publikationen zum Thema von argudiss oder von anderen:
Occupy-Wallstreet: Das Volk gegen die 1%-Übermacht der Wallstreetprofiteure in GegenStanpunkt 4-11