Angesichts der Existenzkrise der Europäischen Union melden sich hier – und in geringerem Maß auch in Nachbarländern – Mitglieder der Zivilgesellschaft, die ihre Liebe zu Europa entdecken. Bürger bekennen sich öffentlich zur „europäischen Idee“ und wollen sie gegen Populismus und Nationalismus in den Nachbarländern und in Deutschland verteidigen.
Für die Sache, die sie ins Herz schließen, treten sie gleich in Form ihrer idealistischen Überhöhung, eben als schöne Idee, ein und kümmern sich – gerade in ihrem Lob Europas – herzlich wenig um dessen Wirklichkeit.
Wer auf die Reisefreiheit und die europaweite Wahl des Studienortes verfällt, wenn er ein Argument für die Europäische Union sucht, der bezeugt immerhin, dass es für Normalbürger gar nicht so leicht ist, Grund und Zweck dieser Union auf sich zu beziehen. Denn eines ist klar: Das Gute, das er für sich am grenzenlosen Europa findet, hat ganz sicher nichts zu tun mit den Zielen, für die dessen Macher es geschaffen haben. Ein Staatenbund zur Ermöglichung von Auslandssemestern und Urlaubsreisen ist die EU nicht.
Wer die Europäische Union dafür schätzt, dass sie den Staaten des Kontinents eine 60-jährige Friedensperiode geschenkt hat, und fürchtet, dass mit einem Scheitern der Union auch ihre Friedensgarantie scheitert, der soll – anstatt sich in der Union wohl zu fühlen – gefälligst über die europäischen Vaterländer erschrecken. Wenn für die die Öffnung, Erschließung und Einordnung der Nachbarn in eine gemeinsame Rechtsordnung tatsächlich die Alternative zu deren gewaltsamer Unterwerfung unter die eigene Hoheit ist und wenn Gewalt zwischen den Staaten wieder droht, sobald der Weg der Integration verlassen wird, dann sagt das auch etwas über die Idylle, die durch diese Integration ins Werk gesetzt wird.
Diese Integration besteht im Übrigen nicht darin, dass etwas – Krieg – nicht stattfand, sondern dass einiges stattfand: Ein Binnenmarkt wurde geschaffen, auf dem Deutschland und ein paar andere Länder sich die Kaufkraft des ganzen Kontinents aneignen und immer mehr Wachstum und Geschäft bei sich konzentrieren, während andere Länder Deindustrialisierung und Arbeitslosigkeit ernten. Und eine Währung, die die Finanzkraft der europäischen Zentralmacht gigantisch steigert, während andere Partnerstaaten wegen ihrer Unterordnung unter die Bedingungen der harten Währung in Dauerkrisen versinken und verarmen.
Wer dazu meint, der europäische Binnenmarkt hätte immerhin „aus Nationalstaaten eine Gemeinschaft gemacht“ (Pulse of Europe), soll sich mal fragen, wo der ganze unzufriedene Nationalismus herkommt, gegen den er die europäische Idee nun retten will. Hat der vielleicht darin seine Grundlage, dass die Gemeinschaft aus Nationalstaaten besteht, die das europäische Projekt an ihrem nationalen Nutzen messen?
Dieser Erfolgsweg des deutschen Staates und der deutschen Wirtschaft seit 1956 steht im europäischen Superwahljahr 2017 auf dem Spiel. Dass Merkel und Gabriel diesen Weg zu retten und fortzusetzen versuchen, verwundert nicht. Normale Bürger, die für die „europäische Idee“ auf die Straße gehen, haben weniger gute Gründe für ihre Parteinahme. Sie sollten wenigstens wissen, wohinter sie sich mit ihrem Idealismus und ihrem Engagement gegen Nationalismus stellen: das gültige Programm des deutschen Nationalismus.
Ein Vortrag mit Redakteuren der Politischen Vierteljahreszeitschrift GegenStandpunkt.
Der Vortrag bei der Sozialistischen Gruppe ist hier.
Veranstalter: Sozialistische Gruppe