Nationalismus und Patriotismus - Deutschland im WM-Fieber. Das Volk spielt schwarzrotgold verrückt. Politik und Presse sind begeistert: "Endlich werden die Deutschen normal!"

Datum
Ort
Nürnberg
Themenbereich
Volk, Nation und Moral
Dozent
Peter Decker

Hätten Sie's gedacht, dass so etwas in Deutschland möglich ist – dem Land der Krise, des Sozialabbaus, des Angstsparens und der Miesepetrigkeit? Im Ton des Triumphes bekommt das Volk über alle Medienkanäle Beweise seiner nationaler Gesundheit vor Augen geführt, damit auch der Letzte kapiert, was angesagt ist: Jetzt drehen wir durch – so wunderbar, wie wir es bisher, neidvoll und erstaunt, bei Amis, Türken, Italienern und eigentlich allen anderen Nationen haben bewundern müssen. Nationalflaggen an Autos und Wohnungsfenstern wie zuletzt unter Adolf, in Nationalfarben bemalte, in die Flagge gehüllte Idioten, die Siege der deutschen Elf fordern und sich überglücklich geben, wenn sie eintreten; ebenso gut spielen sie stolze Gastgeber der Welt, die bei Freunden ist. Fans und Passanten zeigen den Gästen “unser” schönes Land, oder den Weg zur nächsten U-Bahn-Haltestelle, vor allem aber sich selbst als zugleich selbstbewusst deutsch und weltläufig: Man gratuliert den Ausländern zu ihrer Nationalität, zur Wahl ihres Reiseziels und lädt sie ein, “to join the party”! Die Gäste nimmt man als genau das zur Kenntnis, was man selbst sein will und worauf man sich hingeschminkt hat: als Lebende Nationalfähnchen, sonst gar nichts mehr.

Endlich, seufzen Präsident, Kanzlerin und andere Träger der Macht, endlich ist das Volk so, wie es gehört. Da ist er, der Patriotismus, den “wir” brauchen und bisher vermissen mussten. Politiker geben sich freudig überrascht vom Eintreten des nationalistischen Rauschzustands, dessen Anheizen mit einer Fußball-WM im eigenen Land eigentlich gar nicht misslingen konnte – für dessen Gelingen sie diesmal allerdings mehr Aufwand getrieben haben als je zuvor. Man hat nichts dem Zufall einer Stimmung überlassen, von der man sich nun überraschen lässt.

Der Vortrag handelt davon, wie Internationale Fußballturniere als Sportveranstaltungen hergenommen und am Ende ausgerichtet werden, um für die Nation so wertvolle, zuverlässige Aufputschmittel des volkstümlichen Nationalstolzes zu sein.

Der WM-Zirkus ist eine echte Probe aufs Exempel, was für eine furchtbare Abstraktion "Volk" ist. 

Weitere Publikationen zum Thema:

Artikel zum Thema Nationalismus finden sich im Archiv des GegenStandpunkt-Verlages:

Das Volk - eine furchtbare Abstraktion, GegenStandpunkt 1-06

Die schönste Nebensache der imperialistischen Welt (Fussball-WM 86)  in MSZ 7-86

Ein Nachtrag zur "Katastrophe im Stadion": Von der Mission eines Fans, ihre Folgen - und ihre Grenzen  in MSZ 7-85

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