Der verordnete Pluralismus in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften: Anstandsregeln einer falschen Wissenschaft

Datum
Ort
München
Themenbereich
Wissenschaft und Ausbildung
Volk, Nation und Moral
Dozent
Peter Decker

Eigentlich liegt es ja auf der Hand: Fächer, in denen verschiedene Meinungen über ihren Gegenstand kursieren, haben es zu gültigem, überzeugendem Wissen nicht gebracht. Früher hat man das in den Gesellschaftswissenschaften auch noch so gesehen und am unübersehbaren Unterschied zur Objektivität und Unumstrittenheit naturwissenschaftlicher Forschungsergebnisse gelitten; ähnlich haltbare Einsichten wollte man erst noch erzielen. Inzwischen ist jede Unzufriedenheit über den Stand des Wissens an den philosophischen Fakultäten ausgestorben. Der Zustand des Nicht Wissens ist endgültig. Der Auftraggeber der Universität, der Staat, feuert nicht etwa Forscher, die es zu Wissen nicht bringen, sondern fordert und schützt mit dem Pluralismusgebot den Zustand des beliebigen Meinens, zu dem es seine großen Geister gebracht haben. Die Freiheit, die er ihnen gewährt, hat den Sinn einer Freiheit des Wissenschaftlers gegenüber dem Wissen. Er sichert seinen Wissenschaftsbeamten das Recht, sich ihre persönliche "Lehrmeinung" von niemandem weder von Kollegen noch Studenten, weder vom besseren Argument noch von moralischer Mißbilligung bestreiten zu lassen. Er setzt Partikularität und individuelle Eitelkeit seiner bezahlten Denker ins Recht. Die Autorität des Wissens ersetzt er durch die Autorität derjenigen Personen, die es geschafft haben, eine Lehrbefugnis zu ergattern. Die Autorität des Amtes macht die subjektive Lehrmeinung verbindlich freilich nur innerhalb Reichweite des Amtes: in Vorlesungen und Prüfungen des Lehrstuhlinhabers. Ein weiterreichender Geltungsanspruch würde die Rechte der Inhaber anderer Lehrmeinungen verletzen. wischen den vielen Theorien, die alle dieselbe Sache zu erklären beanspruchen, sich also wechselseitig bestreiten und die Geltung absprechen, ist die Tugend der Toleranz geboten. Und die wird auch geübt. Die Fächer haben ein ganzes System wissenschaftlicher Anstandsregeln ausgebildet, mit denen die Professoren den Gegensatz ihrer Ansichten betätigen, ohne sich zu kritisieren. Sie pflegen eine Diskussionskultur, die Ausgangspunkt und oraussetzung jeder Diskussion dementiert: die Unterstellung nämlich, dass es überhaupt ein gemeinsames Objekt gibt, über dessen Auffassung man sich klar zu werden hat. Die Eintrittskarte in die wissenschaftliche Diskussion ist ein eminent bescheidenes Auftreten: Man nennt seine Überlegungen "vorläufig", "erste Annäherungen", "Versuche" und versichert die Kollegen dessen, daß niemand das Unzureichende dieser Bemühungen klarer sehe als man selbst. Wer so von seinen Einsichten spricht, fühlt sich nicht verpflichtet, vorläufig das Maul zu halten und seinen Gegenstand erst einmal gescheit zu studieren. Im Gegenteil. Die frech hervorgekehrte Bescheidenheit nimmt eventueller Kritik den Wind aus den Segeln und macht die schwache Leistung unangreifbar zumal sie die Gegenseite auf die Erwiderung der wissenschaftlichen Höflichkeit verpflichtet. So unverschämt sind die bestallten Denker, daß sie mit der Beteuerung, wie schlecht ihr Zeug sei, jeder anderen Wortmeldung das gleiche Bekenntnis abverlangen und dadurch die Gleichrangigkeit ihres Quarks reklamieren. Sie nennen ihre subjektiven Ansichten von der Sache einen "Aspekt" so als ob sie ihn an sich hätte , und kommen zu ebenso vielen "Aspekten" der Sache, wie sich Diskutanten an der Debatte beteiligen. Jeder rechtfertigt seinen Aspekt, indem er den anderen vorwirft, das vernachlässigt, ausgeblendet, unterschlagen zu haben, was er "einbringen" möchte. Das nehmen die Kollegen nicht weiter übel, denn gegen solche "Kritik" können sie mit dem gleichen Recht darauf bestehen, dass sie eben auch nur ihren Aspekt behandelt haben. Jeder "begründet" seine Sicht der Sache mit seinem Interesse, sie eben so zu sehen. "Erkenntnisinteresse" heißt man das. Zur Verteidigung stellen demokratische Wissenschaftler ihre Einsichten als das tautologische Produkt eines Vorurteils hin. Sie versprechen, daß bei ihren Theorien nichts anderes herauskommt, als was sie vorher in Form ihrer Absicht und methodischen Vorentscheidungen hineingesteckt haben. Da weiß man immerhin, woran man ist! Das Vorurteil geht in Ordnung, ist nach allgemeiner Auffassung sogar nötig man muß es nur zugeben und ausdrücklich machen, damit niemand das arteiliche Bild mit einer objektiven Erklärung verwechselt.

Das ganze System von verkehrten Anforderungen an Theorien, mit denen die Wissenschaftler ihre Debatten bestreiten, dient nur dazu, die eine Frage an die vorgetragenen Erklärungen zu verhindern, auf die es ankäme: Die nach ihrer Wahrheit. Richtige Einsicht in ihre Institutionen, ihr Funktionieren und ihre Prinzipien kann diese Gesellschaft, die sich immerhin Wissenschaft leistet, offenbar nicht brauchen. Das wirft kein gutes Licht auf sie und kein gutes Licht auf die Wissenschaft, die gerade durch den Verzicht auf Wahrheit ihren Staatsdienst leistet. Kein Wunder, daß "Theorie" einen so schlechten Ruf genießt: "Theoretisch" ein Wort, das wissenschaftliche Notwendigkeit ankündigt, bedeutet heute so viel wie "bloß möglich".

Teilaufnahmen
Gesamtaufnahme